Während sich die Gesangsgeschichtsschreibung für die Entwicklung seit ca. 1900 auf die Analyse von Tonaufnahmen stützen kann, muss sich ein historiographischer Zugang für die Zeit vor der Erfindung der Schallaufzeichnung an anderen Quellentypen orientieren. Im Mittelpunkt steht die Auseinandersetzung mit den sich wandelnden Diskursen über das Singen und ihre Beziehung zu dem Phänomen Stimme und der komponierten Musik, deren Notation viele Aspekte der Aufführung (wie den Stimmumfang, die Beweglichkeit von Stimmen oder deren dynamische Bandbreite) im Sinne eines Speichermediums in sich birgt.
Das Buch nähert sich dem Phänomen der verklungenen Stimmen vor 1900 mit einem Ansatz, der Methoden der Kulturgeschichte und der Musikgeschichtsschreibung mit einem strukturgeschichtlichen Ansatz verbindet. Nicht die Geschichte der Vokalmusik ist Gegenstand der Darstellung, sondern die Geschichte der Praxis des Singens in ihren vielfältigen Wechselwirkungen mit der Entwicklung der aufgeführten Musik. Sängerinnen und Sänger erscheinen in dieser Geschichte als Akteure von Musikgeschichte, deren Kunst die Entstehung und Formung von Musik maßgeblich beeinflusste, wie umgekehrt Komponisten und Komponisten Impulse für die Weiterentwicklung sängerischer Ausdrucksmöglichkeiten gaben.